Dienstag, Oktober 30, 2007

Kurdenkonflikt: Niemand wollte Kriegshandlungen

MOSKAU, 30. Oktober (Georgi Mirski für RIA Novosti). „Die Situation ist so beschaffen, dass in Wirklichkeit niemand Kriegshandlungen und die Einführung von türkischen Truppen in den Nordirak wollte.
Außer wahrscheinlich jenes Teils der türkischen Kurden, die die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) gebildet haben. Ihre Kampftrupps kämpfen schon seit vielen Jahren auf dem Territorium der Türkei. Von Zeit zu Zeit begeben sie sich auf das Territorium des Irak, nach Irakisch-Kurdistan, um sich zu erholen, neu zu bewaffnen und dann erneut in die Türkei zurückzukehren."

Diese Meinung äußerte Professor Georgi Mirski, bekannter russischer Orientalist und Politologe, verantwortlicher wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen an der Russischen Akademie der Wissenschaften, Dr. habil. der historischen Wissenschaften. Er hat auf Anfrage von RIA Novosti die Nachrichten in den Massenmedien bezüglich der Einführung von Einheiten der türkischen Armee in den Nordirak, auf das Territorium von Irakisch-Kurdistan, kommentiert.
Mirski ist sicher, dass eine solche Situation (Kampfhandlungen und Einführung von Truppen auf irakisches Territorium) alle in eine recht schwierige Lage bringt.
Wie er sagte, klagen die türkischen Generale darüber, dass die türkische Armee seit vielen Jahren im Kampf gegen die PKK-Guerillas und ihren Partisanenkrieg keinen Erfolg erzielen können. Die Militärs behaupten, dass sie außerstande seien, die in einem anderen Land liegenden Stützpunkte der kurdischen Separatisten zu vernichten. Man gibt ihnen diese Möglichkeit nicht. Deshalb kämpfen sie mit gefesselten Händen, und jedesmal, wenn eine ernsthafte Operation beginnt, gehen die Guerillas über die Grenze und steigen ins Gebirge, zu ihren Stützpunkten. Dem sei, wie die türkischen Militärs wiederholt erklärten, ein Ende zu setzen. Es gelte, den Separatisten und ihren Stützpunkten jenseits der türkischen Grenze einen niederschmetternden Schlag zu versetzen, selbst wenn dazu eine ernste militärische Operation notwendig sein sollte.
Heute finden diese Aufforderungen der türkischen Militärs Unterstützung bei der Bevölkerung. Dazu trug besonders die Tatsache bei, dass ein Ausschuss des Repräsentantenhauses des US-Kongresses eine Resolution annahm, worin der Genozid an den Armeniern verurteilt wird. Die amerikanische Resolution steigerte in der Türkei ernsthaft die antiamerikanischen Stimmungen, die ohnehin recht stark ausgeprägt waren. Nach Angaben von Befragungen stehen lediglich 11 Prozent der Türken positiv zu den Vereinigten Staaten. Dieser Beschluss des Kongresses hat noch mehr Öl ins "antiamerikanische" Feuer gegossen, auch wenn er eigentlich niemanden zu etwas verpflichtet. Bisher ist nicht einmal klar, ob das Repräsentantenhaus ihn annehmen wird. Am ehesten nicht. Aber selbst wenn die Kammer das täte, wäre das für die amerikanische Politik nicht von Belang. Präsident Bush und seine Administration bestehen kategorisch darauf, den Beschluss nicht anzunehmen. Die Türken begreifen das, aber entgegen jeder Logik haben die antiamerikanischen Stimmungen zugenommen. Dazu kommen die neuen Attacken der kurdischen Trupps. Unter anderem ein Hinterhalt vor etwas mehr als einer Woche, in den türkische Truppen gerieten. Zwölf Soldaten wurden getötet, acht gefangen genommen. All das hat die Geduld der Bevölkerung erschöpft. Eine Welle von mächtigen Demonstrationen rollte über das Land. Die türkische Regierung kann sich nicht darüber hinwegsetzen. In jedem Land ist die Regierung verpflichtet, die Meinung des Volkes zu berücksichtigen. Somit sind die Bedingungen für eine groß angelegte Operation gegen die PKK-Separatisten herangereift.
Wie aber weiter? Es wird nicht gelingen, ganz Irakisch-Kurdistan zu besetzen und für lange Zeit zu okkupieren, zu unterwerfen und zu befrieden. Dort wird ein Partisanenkrieg ausbrechen. Lange werden sich die türkischen Truppen dort nicht halten können. Natürlich werden sie alle Trupps der PKK-Aufständischen, die aus der Türkei in den Nordirak gekommen sind, mühelos und schnell vernichten, ebenso wie auch die irakischen kurdischen bewaffneten Kräfte, sollten diese versuchen, die türkischen kurdischen Separatisten zu unterstützen. Vor genau fünf Jahren war ich in jenem Raum, in dem jetzt der Krieg ausbrechen kann: an der Grenze zwischen Irakisch- und Türkisch-Kurdistan. Gewiss können die türkischen Kräfte sie zerschlagen, aber was weiter kommt, weiß niemand. Sie werden alle irakischen Kurden, zu denen sie bisher normale Beziehungen unterhielten, gegen sich aufbringen. All das ist recht aussichtslos. Nur dass die türkische Öffentlichkeit befriedigt sein wird.
Weit schlimmer für die Türkei ist, dass das in Europa, in welches sie sich über die Europäische Union so sehr integrieren möchte, als Aggression gegen den souveränen Staat Irak aufgefasst werden wird, obwohl Irak und Kurdistan faktisch absolut selbstständige Strukturen sind. De facto sind sie völlig unabhängig. Formell aber ist Kurdistan ein Bestandteil der Republik Irak. Und natürlich wird man in Europa eine Aggression gegen einen souveränen Staat, dazu noch ein UNO-Mitglied, scharf verurteilen, so dass der Weg der Türkei nach Europa dann noch dorniger sein wird.
Und wie sieht es unter dem Blickwinkel der Beziehungen der Türkei zu den Vereinigten Staaten aus? Schließlich sind die USA ihr Hauptverbündeter. Wenn eine groß angelegte türkische militärische Operation in vollem Umfang zustande kommt, wird Amerika in eine recht komplizierte Situation geraten. Es kann die irakischen Kurden nicht im Stich lassen, die seine einzigen treuen und zuverlässigen Verbündeten im gequälten, leidgeprüften Irak sind.
Allbekannt ist, dass vor dem Krieg die Kurden auf den Einzug der Amerikaner wie auf ein Geschenk des Himmels warteten, wussten sie doch, dass diese das Regime von Saddam Hussein vernichten würden. Und jetzt die Kurden ohne Hilfe zu lassen und die Augen davor zu verschließen, wie die türkische Armee mit ihnen abrechnen könnte, bedeutet, meint der russische Orientalist, den einzigen zuverlässigen Verbündeten im Irak zu verlieren. Was könnte schlimmer sein? Aber andererseits ist die Türkei ein für die USA nicht weniger wichtiger Verbündeter.
Die Amerikaner könnten etwas tun, um im Falle einer militärischen Operation die irakischen Kurden zu schützen. Die Rede ist von den irakischen Kurden, betont Mirski, und nicht von den türkischen bewaffneten Kurdentrupps aus der PKK. Wenn aber die irakischen kurdischen Streitkräfte die Kampfhandlungen aufnehmen würden, würde das nach Ansicht des russischen Experten für die USA die Situation ernstlich erschweren. Gegenwärtig gibt es in diesem Raum keine amerikanischen Streitkräfte. Es ist schwer vorstellbar, was geschieht, wenn die amerikanischen Truppen um der Rettung der irakischen Kurden nach Irakisch-Kurdistan vorrücken und es zu einem Zusammenstoß mit der türkischen Armee, also zum Zusammenstoß von zwei NATO-Mitgliedern, kommt.
Wie Mirski sagte, könnten sich die USA vor einer sehr komplizierten Wahl sehen. Obwohl auch die türkische Regierung ausgezeichnet versteht, fügte er hinzu, dass es die USA der Türkei nie verzeihen würden, wenn diese sie in eine Situation einbezieht, in der "das Eine schlecht und das Andere nicht besser ist" und es "nicht geht, die Kurden im Stich zu lassen, aber sie zu schützen ebenfalls unmöglich ist".
Natürlich wird eine Invasion der Türkei in Irakisch-Kurdistan als eine Aggression gegen den souveränen Irak qualifiziert werden. Selbstverständlich wird die irakische Armee Schritte unternehmen, um das souveräne Territorium des Landes zu verteidigen. Aber wie effektiv wird das sein? Vorläufig ist sie außerstande, auch in den anderen Räumen die ihr auferlegten Aufgaben des Kampfes gegen den Terrorismus und Banditismus zu bewältigen.
Als Fazit aus dem oben Gesagten zieht Mirski den Schluss: Es ist offensichtlich, wem einzig und allein eine türkische Operation Nutzen bringen könnte: den Kampftrupps der PKK. Warum? Aus einem einfachen Grunde: Selbst wenn ihre Stützpunkte von der türkischen Armee zerschlagen werden und ein bedeutender an die Türkei grenzender Teil von Irakisch-Kurdistan okkupiert wird, wäre für sie der Kampf noch nicht beendet. Sie werden ins Gebirge ziehen und sich umgruppieren. Sie sind zu Verlusten und einem langwierigen Krieg bereit, um letzten Endes die Abtrennung der kurdischen Gebiete der Türkei und die Bildung eines selbstständigen Staates zu erkämpfen. Sie sind Fanatiker, Extremisten, die zu allem bereit sind. Es liegt in ihrem Interesse, wenn die türkische Armee einzieht und Kurdistan besetzt. In diesem Fall wären sie Opfer der türkischen Aggression und könnten mit einer mächtigen und langzeitlichen Unterstützung seitens ihrer Brüder, der irakischen Kurden, rechnen. Schließlich handelt es sich um ein Volk.
Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.